Ein neues Buch und der eigene Anspruch


Vom weißen Blatt und den rheinischen Grundgesetzen

Ich kann mir nichts mehr vormachen: Die Recherche ist erledigt, die Konzeption abgeschlossen, die Tonalität definiert und die Kapitelüberschriften sind vorbereitet. Alles rund um die Planung des neuen Buchs ist erledigt und jetzt sitze ich zum zweiten Mal vor der berühmten weißen Seite.

Während ich beim Schreiben des Erstlings eine unglaubliche Leichtigkeit verspürte, plagt mich nun in gewisser Weise der eigene Anspruch. Denn im ersten Buch ging es mir darum das VSM hinsichtlich seines Aufbaus und den spezifischen Funktionen einfachst zu vermitteln und doch sehr nah am Originalwerk von Stafford Beer zu bleiben. Dabei habe ich mich auch nicht davor gescheut, einen relativ “volkstümlichen” Ton anzuschlagen. Das ist mir wohl einigermaßen gelungen, doch es bleibt eine Ausarbeitung, die eben sehr nah an der Originalstory angelehnt ist. Doch mittlerweile sind wir im 21. Jahrhundert angekommen und die sozialen und technologischen Rahmenbedingungen haben sich erheblich verändert. Insbesondere der a²-Effekt (Beschleunigung der Beschleunigung) fordert nach Antworten, die weder in Singularitäts-Kommerz, noch in dystopischen Endzeitfantasien münden.

In den letzten 12 Monaten verdichtete sich dann langsam bei mir eine eigene Interpretation des VSM, welche diese von mir wahrgenommene granularisierte und digitalisierte Gesellschaft aufgreift und verschiedene Einsichten und Theorien kombiniert. Denn die bisherigen Grenzen und Definitionen von Märkten und den Rollen der Akteure lösen sich mehr und mehr auf. Parallel nehme ich eine ethisch-moralische Krise in der Wirtschaft und Gesellschaft wahr, die sowohl die Graswurzel wie auch das Top-Management erfasst hat. All dies möchte ich aufgreifen und einen Lösungsvorschlag anreichen, der nicht nur theoretisch sondern auch praktisch funktioniert. Mit anderen Worten: Ich habe echt etwas Größeres vor.

Ich möchte einen Denkrahmen aufspannen, der von Epistemologie & Kognition, System-Umwelt-Verständnis, kundenzentrierter Wertschöpfung und digitalen Ökosystemen handelt und dabei auch noch das Gemeinwohl (im Sinne des Public Value) als zentralen Aspekt für Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Mit dieser Konstruktion möchte ich die wesentlichen Handlungsfelder, Phänomene und Wertbeziehungen innerhalb und außerhalb eines Unternehmens aufschlüsseln und eine vielschichtige Orientierung bieten, die über aktuelle Schlagworte hinaus geht und möglicherweise “langfristiger” dienlich sein kann.

An dieser Stelle höre ich Siggi laut rufen: WOZU?

Ich möchte mit meiner Landkarte einen relevanten Ausschnitt aus “der wirtschaftlichen Realität” anbieten und gleichzeitig einen humanen Kapitalismus ermöglichen (aber nicht erzwingen!). Dabei tappe ich hoffentlich nicht in eine normative Falle und propagiere eine “richtig/falsch”-Logik. Obgleich Fragen nach Werten und Glaubenssystemen enthalten sind, so darf die Entwicklung des Modells m.E. nicht von diesen beherrscht werden. Insofern wird meine Interpretation des VSM (und der o.g. Aspekte) natürlich (bestenfalls) nur ein Referenzmodell sein und immer noch einen relativ hohen Abstraktionsgrad mit sich bringen. Daher werden viele Themen und Kontexte benannt, um das Konzept der “intelligenten Organisation” für die Leser schnell nutzbar zu machen.

Ich versuche mich so nah wie möglich einem “Kochrezept” zu nähern, auch wenn es letztendlich vergebens sein wird, mit einem Meta-Modell “die ganze Welt in jeder Situation” modellieren zu wollen. Ich kann daher nur beispielhaft die Nutzung der Elemente der Systematik an die Hand geben: Das Überführen auf den Kontext des Lesers bleibt stets diesem vorbehalten. Es bleibt ein Ko-Kreationsprozess. Ohne eigenes Denken geht es halt nicht – aber mit ein paar Gedanken-Leitplanken funktioniert es hoffentlich viel einfacher.

Das große ABER

Gleichzeitig fürchte ich, ich könnte Bullshytt vertreiben – auch wenn ich mich dem Ethos der intellektuellen Aufrichtigkeit verpflichtet fühle, so ist es nie zu 100% auszuschliessen, dass ich trotzdem unbewusst Mist in die Welt entlasse.

Insofern muss ich mir erstmal die “Standard-Eintrittskarte” in die Welt der Modellierer erwerben, in dem ich hiermit proklamiere, dass ich mir vollkommen und total der Tatsache bewusst bin, dass die kommende Modell-Entwicklung nicht die Wahrheit oder die Realität ist. Es ist ein Konstrukt, welches wahrgenommene Muster in visueller Form systematisiert und kann nur ein Werkzeug sein; mehr oder weniger nützlich.

Die noch zu beantwortende Frage lautet daher, zu welcher Reichweite diese Überlegungen taugen werden.

Raue See mag starkes Feedback

Um das Ergebnis zu verbessern habe ich mich bereits mit  “angesehenen, aber älteren” Wissenschaftlern vernetzt. Wenn ich deren Grillung überstehe, dann könnte es eventuell etwas mit der Theorie-Reichweite werden. Es gilt für mich in diesem Kontext das 1. Clark’sche Gesetz:

„Wenn ein angesehener, aber älterer Wissenschaftler behauptet, dass etwas möglich ist, hat er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit recht. Wenn er behauptet, dass etwas unmöglich ist, hat er höchstwahrscheinlich unrecht.“

Arthur C. Clarke

Der “Value in Use”

Auch wenn’s vielleicht wie eine Businessfloskel klingt, so bedeutet das Prinzip des “Wertes im Gebrauch” doch sehr viel für mich – nicht nur, aber auch, weil es den Ko-Kreationscharakter von Wertschöpfung beschreibt. Selbstverständlich soll das Modell nach meinem Verständnis dabei helfen, konkrete Probleme (=zu Klärendes) zu erkennen und Entscheidungs-Optionen mit relativer Prognose-Sicherheit schnell an die Hand zu geben. Insofern gelten bei aller Abstraktion immer die Grundfragen:

  • Was macht das Modell besser?
  • Was macht das Modell weg?
  • Welche Ergebnisse sind mittels des Modells erreichbar?
  • Wo liegen die Grenzen des Modells? Welche Fragestellungen kann es nicht abbilden?
  • Für welche Kontexte ist es geeignet?
  • Wie gut lassen sich damit Paradoxien integrieren?
  • Ist es offen für Kritik, oder hat eine Selbstimmunisierung stattgefunden?
  • Sowie: Ist es verständlich? Wie hoch ist der kognitive Aufwand um das Modell kennenzulernen und anzuwenden?

Etwas Kitsch: Die rheinischen Werte

Damit ich bei all dem Gedankensalat den ich mir (und den Lesern) zumute nicht kirre werde, entspanne ich mich mit lokalen Weisheiten. Man könnte es als einen Auszug aus dem Rheinischen Grundgesetz bezeichnen. Ob diese Weisheiten wirklich genuin für das Rheinland stehen vermag ich nicht zu sagen, doch eben diese Sprüche vermitteln mir Gelassenheit. Man möge mir verzeihen, wenn es zu sehr nach Folklore klingt.

Et es wie et es.
(„Es ist, wie es ist.“)
Sieh den Tatsachen ins Auge und akzeptiere die Situation. Suche nach dem was sich ändern lässt und arbeite Dich nicht wie Sisyphos ab.

Et kütt wie et kütt.
(„Es kommt, wie es kommt.“)
Es gibt Dinge die außerhalb des eigenen Einflussbereichs liegen. Mach das Beste draus und verlass Dich nicht nur auf Deine Pläne. Sei bereit mit unbekannten Situationen umzugehen.

Et hätt noch emmer joot jejange.
(„Es ist bisher noch immer gut gegangen.“)
Vertrau Deiner Intuition – es ist nicht möglich alles bewusst-kognitiv zu überblicken. Man kann sich mich nur auf das Spiel einlassen: Wenn’s funktioniert, funktioniert es.

Wat fott es, es fott.
(„Was fort ist, ist fort.“)
Jammer den Dingen nicht nach und trauer nicht um längst vergessene Angelegenheiten. Lerne loszulassen und gräme Dich nicht – lern’ was draus.

Et bliev nix wie et wor.
(„Es bleibt nichts, wie es war.“)
Sei offen für Veränderungen. Das Leben ist nicht statisch und das Neue macht das Leben erst interessant.

Wat soll dä Kwatsch?
(„Was soll das sinnlose Gerede?“)
Kritisches Denken gehört zum Standardrepertoire. Lass Dir nix einreden und prüfe Argumente sehr genau. Hinterfrage auch die sogenannten Autoritäten und lass Dich nicht vom Gehabe mancher Leute beeindrucken.

Jeder Jeck is anders.
(“Jeder Karnevalsverrückter ist anders.”)
Toleranz gehört zum Geschäft. Leben und leben lassen. Freiheit muss man aushalten können.

Jönne könne.
(“Gönnen können.”)
Sei großherzig und freu Dich für andere. Vermeide Neid, Habsucht und Gier und sei zufrieden mit dem was Du hast.

 

Und jetzt tauch’ ich wirklich ab und werde für ein paar Wochen nichts bloggen. Bzw:

Liebe weiße Seite, wir haben jetzt ein Date! 🙂

Cheerio,
mk


2 responses to “Ein neues Buch und der eigene Anspruch”

  1. Ich hoffe die erste Seite ist bereits gefüllt! Es gibt immer ein ersten häßlichen Entwurf, an den man nicht sofort den Perfektionisten urteilen lässt.
    Falls Professoren-Meinungen gesucht werden, so ist in Witten Dirk Baecker!

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