Lebensprinzipien in der Natur


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Win Win ist nicht die Lösung, sondern das Problem – what’s next?

Dies war der Titel eines Vortrags von Dr. Pierre Bricage den ich im Rahmen der emcsr dieses Jahr in Wien hörte. Ich war sehr auf den Beitrag gespannt, denn alleine schon aus Bullshit-Bingo-Gründen konnte ich das Gerede vom “win win” nicht mehr hören. Zu oft habe ich erlebt, dass die reine Nutzen-Orientierung in der menschlichen Zusammenarbeit zu kurz greift.

Gleiches gilt für Kooperationen auf der Unternehmensebene: Eine rein funktionale Beziehung wird genau das meistens bleiben – komplett funktional ausgerichtet und damit leicht austauschbar. Das kann ja auch vollkommen in Ordnung sein, wenn sich alle Beteiligten dieses Umstandes bewusst sind.

Leben heisst auch Überleben

Im Vortrag stellte er zunächst das klassische Problemverständnis von Überleben vor: Essen und nicht gegessen werden. Dieser Beute-Räuber-Denkrahmen ist aus seiner Sicht ein triviales Konzept: Denn die Vorteile des Wolfrudels sind immer auch mit Nachteilen verknüpft. Es gibt also nie irgendwelche Vorteile ohne entsprechende Nachteile. Das erinnerte mich an eine Sequenz bei Frederic Vester, in welcher er über Regelkreise in der Natur schrieb und das Beispiel von den Wölfen und den Hasen.

In diesem Gedanken-Experiment tun sich die Wölfe zusammen um gemeinsam mehr Hasen fressen zu können. Das funktioniert zunächst auch sehr gut, doch dann werden die Wölfe mit der Zeit immer dicker, sprich langsamer. Es gelingt ihnen nicht mehr so viele Hasen zu jagen, sodass diese erst dann wieder gefangen werden, wenn das Verhältnis von Masse und Muskelkraft der Wölfe der Geschwindigkeit der Hasen entspricht.

Win-Win ist eine Illusion

Dies passt auch sehr schön zu einer Passage von Herman Haken aus dem Buch Erfolgsgeheimnisse der Natur. Darin spielt u.a. die Spezialisierung eine wichtige Rolle. Bestimmte Spezies haben Nischen gefunden, in denen Sie ohne Fressfeinde (vom Menschen mal abgesehen) ihr Leben leben können. Angenommen es handelt sich um eine Spezies, welche als einzige Art die Blätter eines bestimmten Baums essen könnte. Durch ein spezielles Enzym können die ansonsten giftigen Blätter  verstoffwechselt werden und erzeugen ein Pheromon, dass potentielle Fressfeinde davon abhält diese Art zu verspeisen. Der Vorteil dieser Spezialisierung bedeutet aber auch eine starke Abhängigkeit von der Verfügbarkeit dieses Baumes. Schwere Unwetter oder ein Wurzelpilzbefall werden einen unmittelbaren Einfluss auf die Lebensfähigkeit dieser spezialisierte Spezies haben. Kein Vorteil ohne Nachteil.

Der Mensch ist keine Ausnahme

Meine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte er spätestens ab dem Moment, in welchem er die Frage stellte:
Was sind die Invarianten des Lebens?

Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt natürlich schon intensiv mit dem Begriff der Lebensfähigkeit auseinander gesetzt und “meinen” Maturana gelesen. Jetzt sprach ebenso ein Biologe über sein Modell namens

The Gauge Invariance of Living Systems“.

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In diesem Modell zeigt Bricage die von ihm identifizierten Phänomene des Lebens und deren grundsätzliche Wechselwirkungen untereinander. Darin ist zum Beispiel der Prozess der Massezunahme und der (Geschlechts-)Reife enthalten, bevor Reproduktion überhaupt möglich ist. Ich kann den geneigten Lesern nur raten selber in seinem umfangreichem Archiv zu stöbern.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein persönliches Highlight des Modells erwähnen. Als a²-Denker habe ich’s ja mit Exponenten. Nicht das ich Exponentialität durchdringen könnte, aber sie fasziniert mich, denn da geht’s um Grenzen.

Von Planck bis zum Universum

Das Modell ist prinzipiell rekursiv aufgebaut (wie das VSM!) und lässt sich von der subatomaren Ebene bis zum kosmischen Rahmen skalieren. Padautz! Ist das eine ToE? Ich vermag es nicht zu bewerten, doch in der Tat sind sogar für einen Laien wie mich bestimmte Prozesse im Atomkern auf das Modell übertragbar (z.B. Schalensprünge, Ionen-Verbindungen, etc.). Etwas frei formuliert scheint Bricage Meta-Muster der Periodizität des Lebens auf der Spur zu sein. In dieser Darstellung ist leider die Umwelt nicht so explizit wie im VSM aufgeführt, doch auf eines hat Bricage immer wieder verwiesen: Es macht keinen Sinn System und Umwelt getrennt zu denken. Diese zweiwertige Logik führt zum trivialen Statement des “Essen und nicht gegessen werden”. Um dies zu überwinden soll (wie so oft schon gefordert) das Ganze in seiner Widersprüchlichkeit betrachtet werden. Er schlägt daher zwei neue Begriffe vor, mit denen die innere Umwelt und die äußere Umwelt bezeichnet werden sollen:

Endophysiotope (Endo = innen, physio = Funktion, tope = Raum).
Ecoexotope (Eco = Umwelt, Exo = außen)

Es geht ihm hierbei um zwei neue Zeit-Raum-Aktions-Felder. Auch hier verweise ich wieder auf seine Unterlagen für diejenigen, die sich tiefer reindenken möchten.

Somit zurück zum Win-Win und einer Alternative zum Räuber-Beute-Schema. What’s next?

ARMSADA: Association for the Reciprocal and Mutual Sharing of Advantages and DisAdvantages

Na – habt ihr die obige Zeile auch mehr als zweimal lesen müssen um eine Idee zu erhalten, worum es gehen könnte? Kurz gefasst beschreibt dieses Kunstwort ein Meta-Konzept der Symbiose. Mit diesem Begriff im Hintergrund sollte eine freie Übersetzung relativ selbsterklärend die Grundidee vermitteln:

“ARMSADA – Gemeinschaften für das wechselseitige und gemeinsame Teilen von Vorteilen und Nachteilen”

Eine erste Ableitung aus dieser Definition lautet, dass in einer erfolgreichen (= stabilen) Symbiose das Überleben des Partners im Vordergrund stehen muss. Dies ist ein elementares Kennzeichen jeder nachhaltigen Verbindung. Auf den Menschen und den Fortbestand unserer planetaren Gesellschaft bezogen heisst das mit den Worten von Bricage:

“The man would rather have to increase his capacity to be a guest of the environment!

Partnership of “unity through diversity” for the mutual sharing of profits and injuries (“L’unité dans la diversité.” c’est, à la fois, la devise des États Unis d’Europe et des États Unis d’Amérique… à la langue près), the symbiosis has been allowing the survival of the organisms for billions of years.

For supporting the environment changes, organisms have interconnected together into wholes, that have allowed the increase of the capacity of the environment to be their host, through the increase of their capacities to be the guests of the environment. The development, is not durable, if it is not sustainable for the environment.

The organism survival is durable if sustainable for the environment, namely if it does not impair the durable survivals of the other organisms that share the same environment. “To convert the disadvantages into advantages” and “To prevent the conversion of the advantages into disadvantages” such is the natural survival’s rule. (2*) The creation of a sustainable society depends on “innovative” systems thinkings!”

In seinem Dokument “System Ethics” verdichtet er folgende Aussagen:

The message of Ecology.

1- “completion”: whatever the level of organisation, good and poor places (EcoExoTopes) exist for every form of living systems (EndoPhysioTopes). Each one is inhabited. If one is empty it is immediately completed. The survival needs to inhabit a freed place or to create its new place into the previous living networks.

2- “limitations”: the distribution of species, or “systems-of-species“, is limited by barriers and unfavourable ecoexotopes. The “hosting capacity” of each ecoexotope is limited, as well as the “capacity to be hosted” of each endophysiotope is. And the interactions are limited too.

3- “co-limitation”: no population increases without limit, whatever its level of organisation“. (Figure 8) The growth is limited by the limited mutual fitting between the hosting capacity of the ecoexotope and the capacity to be hosted of the endophysiotope.

4- “self-limitation”: overexploited populations can collapse, whatever their level of organisation. The over-increase of the hosting capacity by Man and for Man alone results in the extinction of biodiversity.

5- “meden agan”: communities can rebound from limited disturbances. Each endophysiotope can survive between 2 functional limits of its ecoexotope: deficiency and excess.

6- “diversity”: communities can exist in several stable configurations. Diverse interactions between the hosting capacity and the capacity to be hosted build the nest of several steady-states.

7- “convergence”: a same steady-state may be obtained by several ways.

8- “ e pluribus unum”: the duration and sustainability of a system-of-systems depends on keystone sub-systems. Man is a keystone species for the agrosystems.

9- “recycling first”: Matter and energy are limited. Natural systems (cells, organisms, EcoSystems…) must recycle materials. The sustainability is the result of a permanent recycling inside and between food chains.

10- “systemic constructal fitting”: climates change, ecoexotopes change, communities change, endophysiotopes change. Changes are both overlapping and in a loop. The changes of the hosting capacity, in quality or in quantity, particularly due to recycling, are controlling the growth and constrained changes in the functional, spatial and temporal organisation of the capacity to be hosted. That is itself feedback controlling the growth and the development: “(hosting capacity)x(capacity to be hosted)=k”.

11- “co-evolution”: natural systems are products of Evolution. Local changes of the hosting capacity can lead to global changes of the capacity to be hosted. The development of a wholeness is durable only if sustainable for the “system-of-systems“ and all its actors, as well as sustained by all its sub-systems.

Kleines Nachwort

Dieser Post wurde mal wieder durch eine Twitter-Konversation initiiert. Diesmal war es Ardalan Ibrahim und die Fragestellung, ob Leben per se parasitär sei. Meine Antwort lautet: Ja – auch, aber nicht nur. Und warum gibt es Parasiten? Weil die Vorteile haben. Und Nachteile 😉

Somit bin ich letztendlich auch bei Dir: Kooperatives wirtschaften sollte ein gesundes wirtschaften bedeuten – nach innen wie nach außen – egal auf welcher Rekursionsebene innerhalb einer Organisation. Gleichwohl müssen wir uns immer der Nachteile der Kooperation (meist zeitlicher Natur) bewusst sein und dann “intelligent” mit denen umgehen. Da kommt dann u.a. das VSM ins Spiel, doch das ist eine andere Geschichte 🙂

 

 

Bildnachweis: Dr. Pierre Bricage, Wikipedia


2 responses to “Lebensprinzipien in der Natur”

  1. Spannende Gedanken. Das Paper habe ich mir auf die Leseliste gesetzt.

    Aber Win-Win ist aus meiner Sicht auch noch aus anderen Gründen eine Worthülse und oft zu kurz gedacht: Win-Win will Genuss sofort.

    Wer von einer Win-Win Situation spricht, meint einen sofortigen Gewinn für alle Beteiligten. Das ist notwendig ein Kompromiss, denn den Einstieg in solche Überlegungen (mit Verhandlungen) macht ja wahrscheinlich eine eher ungleiche Situation. Sonst wäre die Suche nach einer Win-Win-Lösung überflüssig.

    Kompromisse scheinen vorteilhaft – aber ich sehe immer wieder auch Nachteile in ihnen, z.B. sie zu erzielen dauert lange, das Erreichte ist am Ende geringer als das Mögliche, sie leisten Lobbyismus Vorschub.

    Um bessere Effekte zu erzielen, glaube ich, dass man öfter mal die Prämisse von Win-Win hinterfragen sollte, nämlich dass es jetzt sofort überhaupt für alle Beteiligten einen Vorteil, einen Win geben muss.

    Wenn man mal zurücktritt und Beziehungen über den Moment hinaus denkt – wie z.B. in einer Ehe -, dann muss es gar kein Win-Win geben. Dann kann jede Entscheidung mit einem Winner und einem Loser enden. Doch das ist nicht schlimm, weil im Laufe der Zeit, beide Positionen sich ausgleichen. Der Winner von heute ist der Loser von morgen und umgekehrt und immer im Kreis.

    Wenn Winning und Losing über längere Zeit betrachtet sich die Waage halten, dann ist alles gut. Dann muss kein Kompromiss heute zwischen zwei Positionen gesucht werden. Dann muss jetzt kein Win-Win hergestellt werden.

    Insofern glaube ich, dass die Rede von Win-Win geboren ist aus Situationen der Kurzfristigkeit, in denen längere, ausgleichende Beziehungen keine Rolle spielen.

    Wer also Win-Win hört, sollte sich fragen, ob die Beziehung überhaupt dem entspricht, was er/sie sich vorstellt.

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